Archiv für den 30. August 2007Quer durch den Wald erreichen wir die Grenze. Unterwegs entdecken wir den Golm, höchster Punkt der Insel Usedom. 69 Meter hoch und mit einer ätzenden Geschichte. Denn von dem Ort, wohin viele früher für einige Tage zur Erholung kamen, ist fast nichts mehr übrig. Ein Friedhof für Marinesoldaten ist entstanden. Doch das Datum, das hier niemand vergisst, ist der 12. März 1945. Als die Amerikaner den Hafen bombadierten, der überfüllt war mit Schiffen voller Flüchtlinge und Verwundeter. Mehr als 20.000 Tote. Heute lädt die Gedenkstätte zur Andacht ein und verfügt über eine nahegelegene Jugendbegegnungsstätte. Wir setzen unseren Weg fort. Die Regenkleidung wird eher der Form halber angelegt als dass sie etwas nützt. Zu meiner großen Freude erreichen wir den Grenzübergang im Süden der Insel. Er trennt die Insel, die zum großen Teil deutsch ist, von der polnischen Stadt Świnoujście, im Osten der Insel. Oder eher der Halbinsel. Denn es ist möglich, die Insel mit dem Auto oder dem Zug zu erreichen, wenn man von Westen her kommt. Dies ist auch der Weg, den Sylvia und ihre chinesische Freundin genommen haben, die beide aus Leipzig angereist sind, um die Mannschaft des Veloblog bei ihrer Ankunft wiederzutreffen. Mehr als sechs Stunden mit dem Bus und ein Visa für Yan. Eine wahre Expedition! Der Treffpunkt ist in der Jugendherberge. Und dort ein magischer Vorgang: Als ich die Telefonnummer von Zbigniew Jakobsche nenne, dem Direktor der Stettiner Jugendherberge, der den letzten “Begegnungstag” des Veloblog empfangen hatte, öffnen sich die Türen nicht ohne einen mitwisserischen Blick. Danke für diesen neuen Empfang! Ich verstehe nicht alles, behalte aber die besagte Visitenkarte: ein Mittel, um eine Weltreise zu machen? Nachdem wir die Unterkunft gesichert haben, laufen wir im Zickzack durch den Regen zwischen den mehr oder weniger hohen, mehr oder weniger grauen Häuserblöcken von Świnoujście und suchen für den letzten Abend des Veloblog Zuflucht in einem Restaurant. Sehr komfortabel… wenn die Küche nicht um 22 Uhr schließen würde und uns zwingt, uns im Sklep einzufinden und aus Vielen eine Flasche Wodka auszusuchen… Der starke Mann der Truppe steigt aufs Fahrrad und die drei Mädchen bereiten sich auf eine Runde Trampen vor. Treffpunkt im Hafen, 17 Kilometer weiter und spätestens zwei Stunden später. Nach ungefähr einer Viertelstunde Fußmarsch mit ausgestrecktem Daumen sitzen wir im Wagen eines Ehepaares aus Neubrandenburg, die einige Tage in ihrem Bungalow verbracht haben. Schon seit Jahren verbringen sie ihre Ferien in dieser Gegend. “Es hat sich viel verändert, früher kamen die Busse einer nach dem anderen, wegen der Butterfahrten. Aber jetzt herrscht in der Gegend eine Ruhe…” Wir erreichen unseren wackeren Radfahrer: noch sechs Kilometer und wir werden uns im Hafen vor einem warmen Café wiedertreffen. Und die Fähre lässt auf sich warten… Lager ohne Lagerfeuer in der Nähe des Grenzübergangs, gewärmt von einigen Schlucken Żubrówka-Wodka und ein paar Tanzschritten, ein Frühstück, das vom Erscheinen einer Journalistin der örtlichen Zeitung “Nordkurier” geschmückt wird und wir sind bereit für neue Geschichten und die Herausforderung des Tages: zur Insel Usedom zu gelangen, so oder so. Wir setzen unsere Hoffnung auf die Fischer von Altwarp. Es seien acht im Ganzen, so Frau Schnase, die nicht nur im Verein des kleinen Hafens arbeitet (Fremdenverkehrsverein “Altwarp am Stettiner Haff” e.V.), sondern als Landeskind, das in der Heimat geblieben ist, auch jeden kennt. “Vor dreißig Jahren gab es noch ungefähr fünfzig Fischer hier, aber die Zeiten haben sich geändert. Der Beruf ist hart und die Ältesten gehen in Rente, ohne ersetzt zu werden”, erklärt sie mir. Am Vormittag wohnen wir der Rückkehr der Fischer bei, die ihren Fang bei der Genossenschaft des Ortes entladen: viel Zander und Barsch, die in die Nachbarstadt Ueckermünde gehen, um dort in den umliegenden Fischgeschäften und Restaurants verteilt zu werden. “Die Fischer mieten die Stelle im Meer für ihre Netze”, erzählt mir Frau Schnase, während sie mir die Bojen jedes Einzelnen zeigt, die für die nächste Ausfahrt vorbereitet werden. Heute gibt es keinen Aal. Aber man erzählt mir trotzdem von den Aalen des Haffs, die köstlich sein sollen. Nicht zu vergleichen mit Zuchtaalen. Nur, man muss nachts losfahren und die Fischer fahren nicht jeden Tag… Im Laufe der Gespräche wird klar, dass kaum Fischer, obwohl viele mehr Tourismus, mehr Verkehr auf dem Haff wollen, bereit wären, uns auf die andere Seite zu bringen. Aber uns bleibt noch ein letztes Ass im Ärmel: Der Sohn des Gastwirts, bei dem wir am vorigen Abend unser Essen bestellt haben. Ebenfalls Fischer, sei er bereit, uns am frühen Nachmittag auf die Insel zu bringen, uns und unser Fahrrad. Kurzer Telefonanruf zur Beruhigung: Wir nutzen die verbleibende Zeit, um durch das Dorf zu spazieren, auf der Suche nach historischen Spuren, während wir auf die Rückkehr unseres aufopfernden Fischers in den Hafen warten. Dort, das runde Haus mit dem Reetdach, erinnert als letztes Gebäude an die Existenz eines Kriegsgefangenenlagers während des Zweiten Weltkriegs. “Es gab Franzosen, Belgier und Russen, die im Lager arbeiteten”, erklärt mir Frau Schnase. “Sie stellten Bauteile für die V1-Raketen her, die in Peenemünde zusammengebaut und getestet wurden.” Begeistert von der Vorstellung, das Dorf ihrer Kindheit zeigen zu können, erzählt mir Frau Schnase von der Umsiedlung der Dorfbewohner von Altwarp nach Altstadt, während des Dritten Reiches, damit die Wehrmacht ihre Militärzone ausbauen konnte. Dann erwähnt sie den sowjetischen Friedhof, der in den Dünen nahe des Dorfes liegt. “Es wurden auch Franzosen und Belgier, insgesamt circa 250 Personen, dort in einem Massengrab beerdigt”, sagt sie mir. “Doch deren Überreste wurden 1953 in ihre Heimatländer überführt. Bleiben heute noch die Russen.” Wir waren gerade dabei, einige Photos der Gegend für den Veloblog zu machen, als das Telefon klingelt: Unser Fischer wird uns nicht transportieren können, erklärt man uns im örtlichen Restaurant. Leichter Stess und großer Sprint, um zu versuchen, den letzten Bus nach Ueckermünde zu erreichen, von wo die letzte offizielle Fähre auf die Insel abfährt. Trotz der großen Motivation der Truppe nützt es nichts, zu rennen, wir müssen pünktlich loskommen… Der Bus ist schon weg. Kleine Gruppenabstimmung: Fragen wir nochmals die Fischer, ob es wirklich keine Möglichkeit gibt, auf die andere Seite zu kommen oder versuchen wir irgendwie nach Ueckermünde zu gelangen, um wie jedermann die Fähre zu nehmen? Die zweite Möglichkeit wird angenommen. Wir können die Bewohner nicht zwingen, dem Veloblog zu helfen und unsere Überredungskünste sind erschöpft. Zum ersten Mal muss der Veloblog einen Ersatz finden. Ein bißchen schade, zwei Tage vor dem Ende der Reise, aber wir lassen uns davon nicht entmutigen: Zwei Personen wollen noch zu uns stoßen und warten auf der Insel Usedom. Wir haben vier gut gefüllte Rucksäcke, 17 Kilometer und zwei Stunden vor uns… |