Archiv für den 23. August 2007Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich in einem Wohnwagen übernachtet. Doch nicht deswegen gefällt mir der Campingplatz von Mescherin so gut, sondern wegen seiner Atmosphäre und seiner schönen Umgebung. Der Campingplatz von Mescherin existiert bereits seit mehr als 50 Jahren. „Der hat die Wiedervereinigung überlebt“, witzelt einer der Verantwortlichen. Doch nur knapp, denn nach seiner Privatisierung in den 90er Jahren wäre der Campingplatz beinahe auf der Strecke geblieben. „Selbst wenn man genug Gäste hat, kann man nicht davon leben, der ist einfach zu klein.“ Aber das Schiff einfach sinken lassen? Nein! Der Campingplatz wurde von einem Verein der Gemeinde übernommen, dem Dorfverein am Oderstrom e.V. „Österreicher auf der Durchreise bei uns haben uns einmal gesagt, dass wir der einzige Campingplatz seien, der direkt am Oder-Neisse-Radwanderweg liegt“, wiederholt stolz der Bürgermeister der Gemeinde. Und es ist alles da, was man braucht. Zelte und Wohnwagen gibt es für ganz Spontane gegen eine Leihgebühr, und für Frühaufsteher bietet der Platz einen herrlichen Blick über die Ufer und Auen der Oder. Und schließlich ist auch noch der Bürgermeister da, der Euch gern dabei hilft, ein kleines Treffen bei seinem polnischen Amtskollegen in Gryfino zu organisieren. Während er mir die moderne Anlegestelle von Mescherin mit den leeren deutschen Zollhäuschen zeigt, erzählt mir Herr Menanteau von den Butterfahrten, jenen Bootsfahrten, zu denen Deutsche wie Polen in Massen strömten, um zollfrei Produkte zu kaufen. „Um die tausend Polen kamen zu Fuß über die Oderbrücke (1, 2), um auf der deutschen Seite an Bord der Schiffe zu gehen. Und es kamen auch etwa 20 deutsche Busse, die weitere Passagiere brachten“, erklärt Herr Menanteau. Schwer vorstellbar bei einer 500-Seelen-Gemeinde wie Mescherin. Doch noch schwieriger zu verstehen ist für mich das für die Gewässer der Oder damals gültige Zollsystem. Die auf der deutschen Seite registrierten Schiffe nahmen ihre Passagiere auf, fuhren dann zur polnischen Seite und ließen sich dort registrieren. De facto verließen sie somit Deutschland. Die Produkte an Bord konnten nun zollfrei verkauft werden. Daraufhin fuhren die Schiffe eine Schleife und kehrten zur deutschen Seite zurück, wo sie ihre gesättigten Passagiere entluden. Etwa im Stundenrhythmus legten die Schiffe an und tauschten ihre Kundschaft aus. „Für die Gemeinde war das Geschäft mit den Butterfahrten sehr rentabel. Zwei Reedereibetriebe mieteten unsere Anlegestellen.“ Doch seit Polen im Mai 2004 der EU beigetreten ist, leeren sich die Kassen der Gemeinde: die Butterfahrten gibt es nicht mehr und die Anlegestellen von Mescherin sind günstig zu mieten… Und wieder reden wir vom Geld: Mit dem Beitritt Polens zur EU wurde auch die Oderbrücke, die Mescherin mit Gryfino auf der polnischen Seite verbindet, für den Kraftwagenverkehr geöffnet. Die Kontrollen nahmen ab, man konnte es sich ja erlauben, erklärt mir der Bürgermeister von Mescherin. Doch plötzlich stellte auch die Wäscherei auf der polnischen Seite, welche den Großteil der Hotels auf der deutschen Seite beliefert, ihre Fähre praktisch ein. „Die Wäscherei hatte eine Fähre eingerichtet, um die Staus bei Schwedt zu umgehen. An unserer Anlegestelle wurde die Wäsche dann entladen und auf firmeneigene LKW verladen.“ Doch seit die Brücke für den LKW-Verkehr geöffnet ist, hat die Wäscherei ihren Fährbetrieb natürlich eingestellt. Doch glaubt jetzt nur nicht, Herr Menanteau wolle Polen nicht in der EU haben, nein: es ist vielmehr die finanzielle Situation seiner Gemeinde, der er als Bürgermeister seit mehr als sechs Jahren vorsteht, die ihm Sorgen bereitet. „Man muss jetzt umdenken und gemeinsam europäische Projekte entwickeln, um Gelder zu bekommen, Deutsche und Polen zusammen.“ Den Bürgermeister von Mescherin, Herrn Menanteau, traf ich zum ersten Mal im “Gemeinschaftshaus”, dem heutigen deutsch-polnischen Begegnungszentrum. Diese Räume haben eine lange Geschichte. Vor und nach dem Krieg beherbergte das Haus eine Schule, später, zu DDR-Zeiten, einen “Konsum”, sprich: die dorfeigene Kaufhalle, bis das Gebäude nach der Wende schließlich renoviert wurde und nun das Begegnungszentrum des Dorfes ist. Doch es ist vielmehr die Geschichte seiner Familie, die mir Herr Menanteau erzählt. Die Geschichte einer hugenottischen Familie, die aufgrund ihres Glaubens durch das Edikt von Nantes (1635) aus Frankreich vertrieben wurde. Brandenburg nahm die vertriebenen Hugenotten auf, um die Region zu bevölkern. Die aus Tours stammende Familie Menanteau siedelte sich im 17. Jh. in Vierraden an, wo die Hugenotten maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der Tabakindustrie hatten. Herr Menanteau selbst war Landwirt, bevor er in Rente ging. Er erzählt mir von “volkseigenen Gütern” und “Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften”, den sogenannten LPG. Erstere waren staatseigene Güter der DDR, die letztgenannten landwirtschaftliche Kooperativen. “Ich habe mich geweigert, in einer LPG zu arbeiten, weil jeder was zu sagen hatte, aber nie eine Entscheidung getroffen wurde”, erzählt er mir. “Da bin ich lieber in eines der „Volksgüter“ gegangen. Durch die Organisation und die Hierarchie ist es letztendlich eine Person, die entscheidet. Das ist klarer.” Landwirtschaft damals und Landwirtschaft heute: im Alter von 70 Jahren lebt Herr Menanteau mit seiner Zeit. “Hier bei uns lebt man in erster Linie von der Landwirtschaft. Und es wird immer schwieriger. Allein schon mit den Produkten aus Holland und Spanien.» Herr Menanteau fürchtet den Beitritt Polens zum Schengener Raum: “Die Produkte werden billiger sein, da die Löhne in Polen niedriger sind als bei uns. Das bedeutet wahrscheinlich, dass es für unsere Landwirte noch schwieriger wird, denn den technischen Fortschritt Deutschlands werden die Polen rasch aufgeholt haben.” Er vertraut mir an, dass er bewusst deutsche Produkte kauft, um die deutschen Produzenten zu unterstützen. “Nur tanken gehe ich in Polen, in Gryfino, weil das näher liegt. Fünf Kilometer anstelle von 30 !” Gryfino, das ist die polnische Stadt auf der anderen Seite der Oder. Früher waren die Gemeinden miteinander verbunden durch eine kleine Holzbrücke, später durch eine Metallbrücke, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Die Brücke, die dann errichtet wurde, war zunächst allein dem Militär vorbehalten. Erst 1990 wurde die Brücke für Fußgänger und Fahrradfahrer geöffnet. Und seit 2004 ist die Fahrt über die Brücke auch mit dem Auto möglich. Seit dem Tag des Eintritts Polens in die EU. Der Eintritt Polens in die EU, nein, dagegen hat Herr Menanteau nichts. Doch als Bürgermeister der Gemeinde Mescherin seit über sechs Jahren sieht er allein die negativen finanziellen Folgen. “Eine Geschichte, die sich mit einem Minus davor schreibt!” |