Archiv für den 3. August 2007Neuzelle, eine Kleinstadt von etwa 1500 Einwohnern, liegt auf halbem Weg zwischen Ratzdorf und Eisenhüttenstadt, etwas weiter landeinwärts. Ungewöhnlich ist dort die unmittelbare Nachbarschaft von evangelischer und katholischer Kirche. Ein Muss ist das mehr als 500 Jahre alte Zisterzienserkloster, auf den ersten Blick in atemberaubendem Barockstil erbaut: man weiß nicht, wohin man zuerst schauen soll. Und wenn man dann genauer hinsieht, bemerkt man, dass der ganze Marmor nur Schein ist, dass der Stein manchmal einfach kunstvoll bearbeitetes Holz ist. Mich persönlich hat diese Kunst des Scheins fasziniert. Was den Rest betrifft, muss jeder selbst entscheiden… Auf jeden Fall ist es dieses Kloster mit seinem großen Kontrast zu den umgebenden Häuser, die überwiegend ziemlich bescheiden sind, das den Touristenstrom sicher stellt. Falls das nicht doch die Klosterbrauerei tut, die letzte ihrer Art in ganz Brandenburg, die seit mehr als 400 Jahren die umliegenden Dörfer mit Bier versorgt. Hier ist es schwierig, die von den Touristen ausgetretenen Pfade zu verlassen. Ein kleiner Umweg zum Touristenbüro hilft mir auch nicht weiter. An deutsch-polnischen Projekten soll es hier nur das Gymnasium der Stadt geben, das einzige, an dem die Schüler polnisch lernen können. Aber nur, wenn die Eltern es sich leisten können, denn das ist eine Privatschule. Ende des Tages: Ich begleite Vivien zum Bahnhof und fahre zurück zu den Schulzes. Diese Familie ist so harmonisch, ich ziehe es vor, das für die Nacht angesagte Unwetter in ihrer Gesellschaft zu verbringen, statt weiter zu fahren! Nebenbei bemerkt, ich kann allen nur empfehlen, mal in der Abenddämmerung Rad zu fahren, das ist die beste Zeit, um alle möglichen Tiere zu sehen. Die letzte dieser Begegnungen waren jungeRehböcke, die ihre Minigeweihe auf dem Radweg am Eingang nach Ratzdorf versuchten. Einer von ihnen kam mich sogar von Nahem begrüßen, aber ich muss zugeben, dass ich mich bei einem Abstand von weniger als zwei Metern nicht getraut habe, den Fotoapparat zu zücken… Herr Budras hatte mir ja erklärt, dass der deutsche Staat die Anwohner früher schon gebeten hatte, nicht mehr so nah an den Oderufern zu wohnen, die heute zur polnischen Seite gehören: Überschwemmungen waren zu häufig und die nötigen Finanzhilfen zu teuer. Ergebnis: Die Dörfer Krzesin, Bytomiec und Miłow wurden ein wenig weiter ins Hinterland versetzt. Dennoch gab es eine Fähre, die einen über die Oder nach Ratzdorf bringen konnte. Der Großvater der Familie Schulze zeigt es mir auf der Karte: eine Fähre über die Oder und eine weitere über die Neiße, die ihrerseits Ratzdorf mit der Gemeinde Kosarzyn verband, genau auf der anderen Seite der Neiße. Der Großvater kennt die Gegend gut. Er selbst wurde einige Kilometer von Kosarzyn entfernt geboren, in Łomy. “Auf der anderen Seite gibt es einen hübschen See mit Campingplatz. Der ist in keinem besonders guten Zustand, aber man kann dort Eis und Würstchen bis zum Abwinken essen.” Die Schulzes fahren von Zeit zu Zeit auf die andere Seite, manchmal auch ohne den Umweg über die Grenzübergänge von Guben-Gubin im Süden oder Frankfurt/Oder-Słubice im Norden. Dann nehmen sie das Frachtschiff zum ökumenischen Gottesdienst, der am Fuße des “Kreuzes der Begegnung” stattfindet. Besagtes Kreuz wurde im September 2003 am Neißeufer auf polnischer Seite aufgestellt, nicht weit von der Mündung. Die Deutschen stifteten das Kreuz und die Polen den Sockel. Der Platz soll ausgewählt worden sein, weil die polnischen Behörden weniger Umstände machten als die deutschen - soll heißen, es waren weniger Formulare auszufüllen. Das hat mir zumindest, neben anderen, die Großmutter der Familie Schulze erzählt. Die Zusammenarbeit zwischen der evangelischen Kirche auf deutscher und der katholischen Kirche auf polnischer Seite ist ein erster Schritt. Aber es wird bereits weiter gedacht, und man ist sich einig über den Bau einer Fußgänger- und Radfahrerbrücke über die Neiße. |