Archiv für den 26. Juli 2007Seht Ihr mich schon, mit meinem Zweirad auf der Autobahn? Also bitte, ein bisschen gesunden Menschenverstand! Ich musste mir doch nur etwas einfallen lassen, um diesen komischen Grenzposten überqueren zu können. Stellt Euch das vor: Die polnische Seite: Ich radle friedlich vor mich hin auf der Straße, im Schatten des Tannenwaldes. Nicht mal eine Katze. Endlich ein wenig Ruhe, um nochmal an all die Geschichten, die ich auf meinem Weg erlebt und gesammelt habe, zu denken. Je mehr ich mich der Grenze nähere, desto spärlicher werden die Bäume und desto zahlreicher die Tankstellen. Ich fühle mich ein wenig einsam zwischen all den Lastwagen. Aber der eigentliche Haken ist eher der Grenzübergang. Die deutsche Seite: Die Straße wird zur Autobahn. Es ist wirklich absurd. Ein riesiges Hindernis für Fußgänger und Fahrradfahrer, die an dieser Stelle gebeten werden, sich (zu Fuß oder mit dem Rad) zum nächsten Grenzposten, zwanzig Kilometer weiter nördlich (Forst) oder weiter südlich (Bad Muskau/ Łeknica), zu begeben. Und das, obwohl ich doch der Empfehlung von Eva und Aischa folgen wollte, schnellstmöglich eine Unterkunft für die Nacht zu finden…. Ich entschließe mich, mit den Grenzbeamten zu verhandeln: „Ich muss nur das nächste Dorf Klein Bademeusel erreichen, verstehen Sie, bloß zwei Kilometer… die erste Autobahnausfahrt…“ Wir finden wir einen Kompromiss: Sie kontrollieren die Ausweise der Passanten und ich suche mir derweil einen freundlichen Chauffeur. Schließlich steige ich in einen polnischen Transporter, der nach Deutschland fährt, das Fahrrad im Kofferraum und ich auf dem Beifahrersitz. Ein junges, sehr nettes Paar, das mich innerhalb von zwei Minuten mit den regionalen sauren Gurken füttert. Ausgezeichnet! Und schon bin ich in Deutschland, in Klein Bademeusel: Operation gelungen! Als ich tapfer weiterradelte, um den nächsten Grenzposten (kurz hinter dem Dorf Olszyna) zu erreichen und wieder nach Deutschland hinüber zu fahren, konnte ich der Versuchung einer Kaffeepause nicht widerstehen, was einige sicher verstehen werden… Ich machte also Halt in einem Lokal am Rande der Straße, die ich entlang fuhr. Und erst, als sie mich zu sich an den Tisch einluden, bemerkte ich, dass Eva und Aischa eine “etwas andere Arbeit” machen. Zwei sehr nette Mädchen, die eine Polin (23), die andere Bulgarin (32), die mich warnen. Viele Mädchen warten auf der Straße auf ihre Kunden und die Zuhälter sind nicht weit. Ich solle aufpassen und mir möglichst schnell eine Unterkunft für die Nacht suchen. Die Mädchen erzählen mir von ihren Abenteuern und Missgeschicken im Rotlichtmilieu. Auch hier werden Deutsche und Polen verglichen. Die Deutschen kommen übers Wochenende, um sich zu amüsieren, und zahlen gut. Vor den Polen müsse man sich in Acht nehmen, sie seien manchmal gewalttätig. Aber Eva fügt hinzu, dass sie nichts gegen Polen habe, sie sei ja selbst Polin. Nur sei die Gegend “dafür” bekannt. Zwei Männer kommen auf uns zu und unterbrechen unsere Unterhaltung. Sie schlagen den Mädchen vor, für sie anschaffen zu gehen. Fifty-fifty für ein Zimmer und eine Internetseite. Telefonummern werden ausgetauscht. Aber als die Burschen weg sind, sagen mir die Mädchen, dass sie lieber zusammen und auf eigene Rechnung arbeiten. Das ist sicherer. Erneut kommen Autos an. Zeit für mich, mich wieder auf den Weg zu machen. Mädchen, passt ihr auch auf euch auf. Und vielen Dank für die gemeinsame Kaffeepause! Immer noch auf polnischer Seite fahre ich weiter meines Weges. Bis zum Nachbarort Nowe Czaple, zum Treffen mit Pawełs großer Schwester Gertruda Kaminska. Sie ist 75, ebenfalls in Topform, mit lachenden Augen und vor allem voller Geschichten von früher! Auch sie erzählt vom Krieg, vom Papa ukrainischer Herkunft, der als deutscher Soldat in den Krieg gezogen ist, von der Mama, die mit den sechs Kindern in der Heimat geblieben ist, und danach von der Front. Neun Wochen Front und viele Tote. “Die polnischen Soldaten sind anschließend gekommen und haben gesagt, dass diejenigen, die wollen, die Neiße überqueren könnten. Wir sind unserer Mutter gefolgt, sie meinte, so sei es besser, um den Vater wiederzufinden, der von der Front kam.” Nach dem Wiedersehen beschloss der Vater, “in die Heimat zurückzukehren”, also die Neiße in die Gegenrichtung noch einmal zu überqueren. “Vielleicht hat er es im Nachhinein bereut, denn bei uns in Polen war es schwieriger als in Ostdeutschland”, sagt Gertruda. Auch sie musste sich anpassen, polnisch lernen, usw. Und sie erinnert sich an ihre Schwester, die die Unruhen im Zusammenhang mit dem Volksaufstand 1953 in Ostdeutschland und der sowjetischen Unterdrückung ausnutzte, um nach Westdeutschland zu fliehen. “Ich konnte sie das erste Mal 1971 besuchen und konnte nicht schlafen”, erinnert sie sich. “Die Menschen standen Schlange, um in den Geschäften einzukaufen, sie konnten alles kaufen, während bei uns die Regale immer leer waren! Das hat mich angewidert, es hat mich krank gemacht!” Die Zeiten waren schwierig, Gertruda wird nicht das Gegenteil behaupten. Sie hat ebenfalls lange in der Genossenschaft gearbeitet. Als Köchin. “Wir hatten nicht viel, aber wenigstens etwas Geld am Ende des Monats. Heutzutage findet kein Mensch mehr Arbeit!”, erhebt Gertruda die Stimme. “Ach, erzählen Sie mir nichts von unseren Politikern! Sie kochen da oben ihr Süppchen und wir, die kleinen Leute, können nichts machen!” Ich lasse mir das polnische Sozialsystem erklären: Sechs Monate lang gibt es für die Arbeitslosen, die nicht dreimal in Folge ein Stellenangebot ausgeschlagen, eine finanzielle Unterstützung. Danach nichts mehr. Kein RMI wie in Frankreich, kein Hartz IV wie in Deutschland. Nur noch Durchbeißen, Schwarzarbeit, Gartenanbau zur Selbstversorgung. Gertrudas Sohn, der den kleinen Familienbetrieb wieder aufgenommen hat, ist selbst arbeitslos. “Er baut zwar seine Kartoffeln an, aber entweder kann er sie gar nicht verkaufen, oder es bringt ihm nichts ein.” Die Familie begrüßt die europäischen Subventionen, die seit drei Jahren fließen, wundert sich aber, warum die Polen weniger erhalten als die anderen europäischen Landwirte. Sie hat so einige Geschichten erlebt, die Gertruda! Sie könnte mir davon den ganzen Nachmittag erzählen. Aber der Versuchung zum Trotz, ihr noch ein paar Stunden zu lauschen, entscheide ich mich, weiter zu fahren: Ich möchte heute gern noch so zwanzig Kilometer schaffen! Trotz seines hohen Alters steigt Paweł Szumało immer noch mit den anderen aufs Gerüst, um ihnen zur Hand zu gehen. Mit seinen 70 Jahren kann er so einige Geschichten über die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft in Pustków erzählen! Paweł erinnert sich an den Krieg, an die Deutschen, die auf dem Hof der Genossenschaft waren, und an die Russen, die ankamen. Neun Wochen lang standen sich die Truppen gegenüber. Dort, gleich nebenan im Wald, daran erinnert sich Paweł, der damals acht war, genau. Danach haben die Deutschen den Rückzug in Richtung Neiße angetreten. Und die Russen sind in die Genossenschaft eingedrungen. Zu dieser Zeit lebten hier mehrere Familien. “Vor allem Polen und Ukrainer, wie meine Eltern. Sie sind gekommen, um in Deutschland zu arbeiten”, sagt mir Paweł. “Wir hatten uns alle im Keller versammelt, und als die Russen eine Handgranate in den Hof werfen wollten, haben wir ihnen gesagt, dass wir keine Deutschen sind!” Was für ein Glück, dass Paweł noch da ist, um mir die Geschichte erzählen zu können. “Die Russen? Sie haben uns gefragt, ob sie noch weit von Berlin entfernt seien.” Gemeinsam machen wir in der Sonne einen Rundgang durch die Örtlichkeiten. Hier die Ställe für die Kühe, dort die der Schweine. Weiter entfernt befinden sich die Tankstelle und die Werkstatt, in der man sein Auto reparieren lassen könnte. Die Wohnungen und das Haus, in dem der Dünger verteilt wurde. Es ist schwer, sich diesen Ort belebt vorzustellen, die Personen, die hier in der “PGR” (polnisch) oder “LPG” (deutsch) arbeiteten und lebten - einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, der kollektiven Organisationsform aus Zeiten des Kommunismus. Jetzt, da alles zu Ruinen verfällt, das Unkraut den Hof überwuchert… Paweł hat 46 Jahre lang in dem Betrieb gearbeitet. Es war schwer, aber es gab auch gute Zeiten. Vor allem aber Arbeit und ein wenig Geld am Ende des Monats. In den 70ern erlebte der Betrieb seinen Höhepunkt: über 2000 Hektar, 80 Kühe usw. Unter dem neuen Regime wurde Mitte der 90er die Genossenschaft dann geschlossen und stellte den Betrieb ein. Die meisten Familien haben die Gegend verlassen, um Arbeit zu finden. Diejenigen, die geblieben sind, haben oft keine Arbeit mehr. Paweł selbst lebt immer noch im selben Haus. Seit 1948. Das Haus einer alten Dame, einer Deutschen, die “rüber” gegangen ist. Ob er zufrieden sei, dass die Deutschen den Betrieb wieder in die Hand nehmen? Tja, man müsse die Zeiten nehmen, wie sie kommen, außerdem hätten die Polen sowieso nicht genügend Geld, um den Betrieb wieder aufzunehmen. Er schlägt mir vor, seine große Schwester zu besuchen, im Nachbarort Nowe Czaple. Sie kenne die ganze Geschichte genau und werde sie mir besser erzählen können. Bevor ich fahre, erkläre ich Paweł, dass das Team von Veloblog unterwegs Begegnungstage organisiert, einen davon in Stettin am 25. August. Paweł hat dort oben Kinder. Er wird ihnen davon erzählen. Vielleicht lernen wir uns ja Ende August kennen? Das wäre prima. Vor allem, wenn die Familie wie Paweł ist. Wirklich ein netter Typ! Dieses Mal sind die Männer da, als ich in den riesigen, von Gras überwucherten Hof der Landwirtschaftsgenossenschaft (1, 2) in Pustków einbiege. Frederik erzählt mir als erster die Geschichte des Ortes. Frederik ist 18 und kommt aus Braunschweig, in Westdeutschland. Seine Eltern besitzen dort einen 70 Hektar großen Bauernhof. Aber sie mussten sich vergrößern, damit sich auch der ältere Bruder niederlassen konnte. “Mein Papa wollte schon immer Land in Polen kaufen, und das war die Gelegenheit. Denn bei uns ist es zu teuer und in Ostdeutschland ist der Boden nicht besonders gut”, erzählt mir der junge Mann. Und erklärt mir dann, dass sie die Genossenschaft mit ihren 120 Hektar Land für 150 000 Euro gekauft haben. Am 15. September 2004. “Es war eine Versteigerung. Mein Onkel war mit dabei, um uns zu helfen, denn wir selbst sprechen kein Polnisch.” Der Ankauf war möglich dank des Passes der Mama, die ursprünglich aus der Nähe von Opole kommt, aber seit rund dreißig Jahren in Deutschland lebt. Und die Familie Brandes würde gern noch mehr Land erwerben: “Heutzutage braucht man um die 500 Hektar, um anständig leben zu können”, erklärt mir Frederik. “Aber in dieser Gegend hier ist es wirklich schwierig. Zuerst sind immer die Polen dran. Es gibt ziemlich viel Korruption.” Die Brandes nehmen sich vor den Polen in Acht. “Sie haben keine Arbeit, aus diesem Grund bestehlen sie andere.” Und er zeigt mir ihren neuen Traktor, dessen rechter Rückspiegel verschwunden ist, genauso wie die Rücklichter… “Hier gibt es nur Banditen!” warnt mich der Papa von Frederik (56 Jahre). Seine zwei Töchter helfen ihm gerade dabei, |